Sabine Klare, CGI

Sabine Klare

Director – Business Agility Coach

Lesen Sie diese Woche Teil 2 zu der Frage, ob und wenn ja wie Start-up-Methoden und traditionelle Arbeitsweisen zu vereinbaren sind.  

Weniger radikal als die bereits geschilderten Herangehensweisen ist der Ansatz des Change-Experten John P. Kotter in seinem 2014 erschienen Buch „Accelerate“.[1] Er empfiehlt die Etablierung einer Netzwerkstruktur als ein zweites Betriebssystem neben der bereits vorhandenen hierarchischen Struktur. In dieser Netzwerkstruktur arbeiten Freiwillige an Innovationen und Veränderungen. Die Aufgabe des Top-Managements besteht darin, die wechselseitige Befruchtung beider Betriebssysteme sicherzustellen. Bei Kotter ist daher die implizite Koexistenz von Hierarchie und Netzwerk, die es wohl in der Mehrzahl der etablierten Unternehmen gibt, ein explizites Element des Organisationsdesigns.

Auch James March vertritt die Ansicht, dass für den langfristigen Erfolg nicht die Loslösung vom Mutterunternehmen, sondern das konstruktive Miteinander der beiden Welten entscheidend ist.[2] Dabei zeichnet sich das Lernverhalten der innovativen Welt durch Experimentieren, Spielen, Entdecken, Variieren und Suchen aus – der sogenannten „Exploration“. Demgegenüber steht in der etablierten Organisation die „Exploitation“: Der Fokus liegt auf der kontinuierlichen Optimierung, Standardisierung und Effizienzsteigerung der bestehenden Prozesse. Beide Lernprinzipien konkurrieren im Unternehmen beständig um Ressourcen und sind in der Praxis schwer zu vereinbaren. March kritisiert, dass etablierte Unternehmen überwiegend den Schwerpunkt auf „Exploitation“ legen und damit die Chance vertun, Potentiale außerhalb des Kerngeschäftes zu erkennen, die für das Überleben der Organisation in der Zukunft bedeutend sein könnten.

„Exploration“, die Suche nach Neuem, Innovativem erfolgt durch Experimente, die begleitet werden müssen von der systematischen Analyse der kausalen Zusammenhänge von Scheitern oder Erfolg eines Experiments. Nach Ansicht Marchs sollte es eher wenige, aber große Experimente geben, damit Ursache und Wirkung klar zugeordnet werden können. Das Anstoßen vieler kleiner Maßnahmen erlaube genau diese Zuordnung nicht und verhindere damit eine valide organisationale Lernerfahrung. In der Folge komme es zu weiteren nicht abgesicherten Experimenten und zu einem teuren Lernprozess.

Auch Clark Gilbert, Matthew Eyring und Richard N. Foster betonen die Notwendigkeit des Lernens und der Veränderung in beiden Teilen der Organisation.[3] Die Transformation A betrifft das Kerngeschäft mit seiner auf Optimierung angelegten hierarchischen Struktur, das sich an die neuen Marktbedingungen anpassen muss. Die Transformation B zielt auf die Entwicklung neuer, separater Geschäfte als Garant künftigen Wachstums. Beide Transformationen verlaufen gleichzeitig und benötigen dafür den Austausch ausgesuchter Ressourcen, ohne Beeinflussung der jeweiligen Arbeitsmodi. Das verlangt das klare Commitment des Top-Managements, mehr als eine Teilzeit-Verantwortung beim mittleren Management, die Identifizierung der zu teilenden Ressourcen (z. B. Marke oder Kundenzugang), den Aufbau von Teams, die mit klarer Verantwortung auf beiden Seiten den Austausch gewährleisten und den Schutz der Grenzen der jeweiligen Organisationseinheiten. Letzteres bedeutet im Alltag üblicherweise keine Einmischung der etablierten Organisation in die Abläufe der Innovationszentren.

Es gibt also gute Gründe, sich gegen die Gründung eines Start-ups als unabhängige Organisationseinheit zu entscheiden. Leitfragen für die Abwägung des Für und Wider sind unter anderem: Betrifft die Innovation das Kerngeschäft? Ist es existenzbedrohend, wenn die später erfolgreiche Innovation nicht wieder in das Mutterunternehmen integriert werden kann? Welche Ressourcen würden sich beide Teile der Organisation teilen? Wie viel Schutz benötigt die Innovation? Wie hoch ist das Risiko, dass die Mutterorganisation revolutionäre Veränderungsversuche niederschlägt und die alte Kultur restauriert? Kann die innovative Kultur inspirierend auf die etablierte Kultur wirken? Wie viel Transformation benötigt die etablierte Organisation?

Eine Strategie, die alle beteiligten Organisationseinheiten in ihrer Unterschiedlichkeit auf ein gemeinsames Entwicklungsziel ausrichtet, und ein Organisationsdesign, das ein Sowohl-als-auch durch angemessene Führungs- und Kommunikationsstrukturen ermöglicht, sind die Grundlage für die Transformation des klassischen und innovativen Geschäfts. Die Vermeidung typischer Lernfehler des organisationalen Lernens – zum Beispiel Neues zu verwerfen, sobald einmal etwas schief läuft, die willkürliche Zuschreibung von Ursache und Wirkung, die überwiegende Vertiefung von bereits Gelerntem statt Neues zu erlernen und das Lernen aus zweiter Hand – verringern die Kosten für den Lernprozess.

Alle Artikel aus der Serie Start-up finden Sie hier:
#1: Start-up, fertig, los? (Teil 1)
#2: Start-up, fertig, los? (Teil 2)

Quellen
[1] Kotter, J. P. (2014). Accelerate: building strategic agility for a faster-moving world.
[2] March, J. G. (1991). Exploitation and Exploration in organizational Learning. Organization Science.
[3] Gilbert, C., Eyring, M. & Foster, R. N. (2012). Two routes to resilience.

Über diesen Autor

Sabine Klare, CGI

Sabine Klare

Director – Business Agility Coach

Sabine Klare war in Australien und Deutschland verantwortlich für Projekte in der Softwareentwicklung, im Outsourcing, zur Verbesserung von Prozessen und Umsetzung des kulturellen Unternehmenswandels. Seit August 2016 berät sie unsere Kunden bei der Einführung agiler Methoden.